Hinweis: In meinen Ausführungen beziehe ich mich auf den MetaTrader5, das Vorgehen im MetaTrader4 unterscheidet sich nur geringfügig. Mit anderen Programmen habe ich noch keine Erfahrungen gesammelt.

Hinweis: Für den Erwerb von fertigen Tradingbots ist ein Account bei https://www.mql5.com/ notwendig. Dazu später mehr im Text.

„Von O bis O“ heißt es bei uns in der Gegend immer. Von Oktober bis Ostern. Winterräder. Menschen denen ein Auto nicht nur als Transportmittel dient, machen aus dem Wechsel der Räder immer ein kleines Ritual. Zumindest hier auf dem Dorf, wo man noch selbst Hand anlegt und nicht 40€ für das Lösen und Anziehen von 20 Schrauben bezahlt. Seis drum, ich hatte auch schonmal keine Zeit, keinen Platz und habe eine Werkstatt dafür bezahlt. Aber eins ist jedes Mal gleich: Nach dem Räderwechsel wird eine Testfahrt gemacht. Wie fühlen sich die Räder an? Wie geht die Lenkung? Wie verhält sich das Auto in bei Bodenwellen oder in Kurven? Klappert irgendwas?

Oder vielleicht kennst du das beim Kaufen von Technik? Egal ob neues Handy, riesiger OLED Fernseher, 800 Watt Soundbar oder stylische „Ear Pods“ – alles wird erstmal probiert und die neuen Funktionen werden genau unter die Lupe genommen – ja genau: Wir testen. Bei EA´s oder Indikatoren aus dem Markt sollte es genauso sein. Es ist sogar noch viel wichtiger, weil du im Gegensatz zum neuen Smartphone nicht so richtig weißt, wie das funktioniert was du da grade gekauft hast.

Um deinen neuen EA zu verstehen führen dich viele Wege nach Rom. Ich würde damit beginnen mir alle Informationen zu meinem Wunschprogramm extern zu besorgen. Wie ist extern gemeint? Nun, hast du vor dem Kauf eines Produktes schonmal einen Testbericht dazu gelesen? Bewertungen bei Amazon durchsucht oder gar in Foren die Erfahrung anderer Nutzer gelesen? Genauso solltest du auch hier vorgehen. Der Markt auf MQL5.com bietet dir schon viele Informationen. Neben der Produktbeschreibung durch den Ersteller (auch Autoren genannt) stehen dir auch Bewertungen anderer Nutzer zur Verfügung. Im Forum kannst du nach Beiträgen zu deinem Wunschprogramm stöbern. Du kannst auch auf den Autoren klicken und schauen was er/sie noch so im Petto hat. Solltest du vor dem Erwerb oder Download der Demo noch Fragen haben, kannst du den Autoren auch direkt kontaktieren. Den Verkäufer im Autohaus fragst du ja auch wie lange er Garantie gibt und was beim Servicepaket für die ersten zwei Jahre inklusive ist, oder? 😉

Wenn du so langsam ein gutes Gefühl aufbaust was deinen ausgewählten EA betrifft und der Verkäufer auch einen vertrauenswürdigen und kompetenten Eindruck macht, solltest du dir die Demo des Programms herunterladen und diese ausführlich unter die Lupe nehmen. Dazu hat sich bei mir eine Kombination aus Backtest im MetaTrader und „laufen lassen“ auf dem Demo-Konto bewährt.

Der MetaTrader bringt von Haus aus den sogenannten Strategietester mit. Damit kannst du simulieren, dass dein ausgewähltes Programm auf historischen Daten gearbeitet hat und damit ermitteln wie gut oder schlecht es funktioniert. Im allgemeinen Sprachgebrauch sagt man dazu Backtest. Du findest den Strategietester in der Ecke rechts unten im MT5 Fenster, über das Menü AnsichtStrategietester oder über die Tastenkombination Strg+R. Der Strategietester begrüßt dich in der Regel mit dieser Auswahl von Funktionen:

Ich werde heute auf die aus meiner Sicht relevantesten eingehen. Unabhängig von meinen Empfehlungen haben aber alle ihre Daseinsberechtigung und du kannst dich dazu gern selbstständig belesen.

Zu Beginn schaust du dir am besten die Einstellmöglichkeiten des Programms an und wie es mit Standardeinstellungen läuft. Dazu nutzt du den Single Modus.

Mit einem Klick auf das Symbol öffnet sich das erste Einstellungsfenster. Hier kannst du festlegen welchen Experten du testen möchtest, auf welchem Symbol und auf welchem Timeframe der Test erfolgen soll. Zusätzlich kannst du noch den historischen Zeitraum für den Test vorgeben.

Den Bereich Forward lässt du deaktiviert. Bei Delay kannst du die Verzögerung deines Computers zum Server einstellen. Generiert der EA zum Beispiel 10:14:00,000 Uhr ein Kaufsignal und möchte eine Position öffnen, kommt die Anfrage nicht vor 10:14:00,067 Uhr bei deinem Broker an. Bei umfangreicheren EA´s mit langen Berechnungszeiten und zusätzlich schlechter Internetverbindung können dir deswegen einige Pips verloren gehen.

Modellierung: Jeder Tick basierend auf realen Ticks bietet die genaueste Modellierung, benötigt aber auch die meisten Ressourcen von deinem Computer. Wenn dein Computer nicht so leistungsfähig ist, musst du bei dieser Modellierungsart mit längeren Wartezeiten rechnen. Die Einstellung Jeder Tick ist ähnlich. Eine genaue Modellierung ist entscheidend für gute Ergebnisse, sollte aber immer dem Zweck folgen. Arbeitest du mit einem EA der auf H1 nach jeder Kerze die Daten prüft, muss dieser nicht zwingend mit jedem Tick simuliert werden. Andererseits sollte das Modell bei Scalpern auf M1 schon genauer sein.

Die Größe deines Testkontos, dessen Währung und den Hebel stellst du als Nächstes ein. Die Optimierung bleibt vorerst deaktiviert. Ist alles eingestellt wechselst du auf den nächsten Reiter und gelangst in die spezifischen Einstellungen deines EA´s. Anbei ein Beispiel von Artemis:

Was du in diesem Fenster einstellen kannst ist von EA zu EA unterschiedlich und hängt davon ab wie viele Freiheitsgrade du als Nutzer des Programms vom Entwickler zugesprochen bekommst. Ein einfacher EA kommt meist auch mit wenigen Einstellungen aus. Viel bedeutet also nicht zwangsläufig gut – schließlich musst du die Einstellungen ja auch alle verstehen können.

Im ersten Durchlauf lässt du einfach alle Einstellungen wie sie sind und drückst im MT5 Fenster unten rechts auf das grüne START. Dein Computer beginnt zu arbeiten: Erst werden die historischen Daten heruntergeladen, danach startet die Simulation. Die Fertigstellung der Arbeit wird mit einem etwas schrägen Ton signalisiert (klingt ein bisschen nach Quietscheentchen). Im Anschluss an die erfolgreiche Simulation findest du zwei neue Reiter im unteren Bereich des Fensters: Backtest und Graph. Schau dir diese bitte einmal ausführlich an.

Angefügt habe ich als Beispiel die Grafik von Artemis mit den Einstellungen der vorherigen Bilder. Die blaue Linie zeigt den realisierten Kontostand, die grüne Linie den Kontostand abzüglich offener Positionen. Um den 27.01.2020 hätten wir also eine offene Position in Höhe von etwa -50€ gehabt. Zum Ende der Simulation sehen wir einen starken Abfall der blauen Kurve. Das liegt daran, dass die Simulation mit Ende des Testzeitraums alle Positionen schließt, egal wie diese grade stehen. Was lernst du daraus? Obwohl der Test mit einem negativen Ergebnis von -43€ schließt, lief der EA bis Anfang Juni ganz akzeptabel. Das Endergebnis des Tests, gibt nicht immer Auskunft darüber, wie gut oder schlecht ein EA ist!

Nach dem ersten Lauf hast du ein Gefühl dafür wie der EA sich verhält. Nun kannst du diesen Test beliebig oft mit unterschiedlichen Einstellungen wiederholen. Bist du auf der Suche nach den optimalen Einstellungen, musst du aber natürlich nicht jede einzeln durchprobieren. Dafür hat der Strategietester bereits eine Hilfe parat – aber dazu später mehr, gehen wir erst einmal etwas tiefer ins Detail. Öffne dazu das erste Fenster des Strategietesters und wähle dort das zweite Symbol:

Die folgenden Einstellungen lässt du einfach so (diese werden von deinem letzten Testlauf übernommen) und drückst unten rechts wieder auf das grüne START. Ein zusätzliches Fenster öffnet sich und der EA zeigt dir einen Chart zu deiner Simulation. Hier kannst du kerzengenau verfolgen wann der EA Positionen öffnet und schließt, in welche Richtung Positionen geöffnet werden und wie groß diese sind. Die Entwicklung des Kontostandes kannst du ebenfalls verfolgen. Über den Schieberegler im oberen Teil des Fensters stellst du die Abspielgeschwindigkeit ein, pausierst an einer bestimmten Stelle oder springst direkt zu einem speziellen Zeitpunkt. Cool oder? Diese Ansicht hilft mir immer sehr das Verhalten des EA zu analysieren und zu verstehen.

Nun aber an die Optimierung. Der Strategietester bietet hier zwei Systeme an: die vollständige Optimierung oder die generische Optimierung. Wie der Name schon verrät ist die vollständige Optimierung genauer aber auch deutlich zeitintensiver. Was bedeutet Optimierung genau?

Jede Einstellmöglichkeit hat unterschiedliche Auswirkungen auf das Verhalten des EA und das Ergebnis. Nimm als Beispiel die Periode eines Moving Average. Ob 6, 8, 10, 20, 100 – der EA wird sich anders verhalten. Also hast du 6, 8, 10, 20, 100 Einstellungen von denen du die Beste für die aktuelle Marktsituation und dein gehandeltes Symbol herausfinden willst. Wenn du jetzt in die Einstellmöglichkeiten von Artemis schaust, findest du dort noch einen RSI. Dieser hat auch eine Einstellung der Periodizität, kann aber auch einen eigenen Timeframe haben. Was also, wenn es die beste Einstellung ist, den Moving Average auf M1 zu setzen, während der RSI aber auf dem H1 läuft, um einen längeren Trend zu erfassen? Damit ergeben sich neben den 30, 40, 50, … Einstellmöglichkeiten der Periode auch noch 5,6,7 unterschiedliche Einstellungen für die Timeframes und so bist du schneller als du gucken kannst bei mehreren TAUSEND Einstellmöglichkeiten (10 x 10 x 30 x 7 = 21.000) aus denen du nun die Beste herausfinden willst.

Einmal auf eines der Optimierungssymbole geklickt gelangst du wieder in die Einstellungen. Im unteren Bereich Optimierung solltest du jetzt langsamer, vollständiger Algorithmus für die genauesten Ergebnisse auswählen. Im zweiten Teil der Zeile stellst du ein auf welchen Wert optimiert werden soll. Willst du das dein Kontostand am Ende so hoch wie möglich ist, dann stellst du ein: Balance max.

Jetzt musst du dem MT5 aber noch Freiraum geben und sagen welche Einstellung er anpassen darf. Dazu wechselst du in den Reiter Inputs. Mit dem Häkchen ganz vorn gibst du an, welche Einstellungen angepasst werden dürfen und in den Spalten Start, Stop und Step stellst du den kleinsten Wert, den größten Wert und die Größe der Schritte dazwischen ein. Ein Beispiel findest du hier:

Danach erneut unten rechts auf START und dann warten. Je nach Rechenpower und Freiheitsgraden kann dieses Warten auch mal sehr lang werden. Mein Rekord war 32 Stunden (ich habe in der der Zeit natürlich etwas Sinnvolles gemacht :D). Als Ergebnis bekommst du eine Grafik und eine Tabelle.

Auf der x-Achse sind die Testdurchläufe zu sehen, auf der y-Achse die erzielten Endergebnisse des Backtests. In der Tabelle kannst du die Ergebnisse im Detail anschauen und dort auch die womöglich besten Einstellungen für die zu optimierenden Freiheitsgrade ablesen (die letzten beiden Spalten). Mit den von mir ermöglichten Freiheitsgraden und den festen Einstellungen wäre mit Artemis also maximal ein Profit von -21.09€ möglich gewesen. Nicht so berauschend. Und genau deswegen wird ein EA vor dem Einsatz getestet und optimiert. Es gibt natürlich Einstellungen für Artemis in denen auch Gewinn erwirtschaftet wird, aber eben nicht mit denen aus dem Beispiel – das ist ja auch keine Verkaufsveranstaltung 😉

Die Optimierung bietet immer nur einen Blick in die Vergangenheit. Sei dir also nicht zu sicher, dass die optimalen Einstellungen im Jahr 2020 auch im Jahr 2021 so gut laufen. Du kannst natürlich auch auf kürzere Zeiträume optimieren und dies dann im Betrieb regelmäßig wiederholen und anpassen. Oder du optimierst auf die letzten 5 Jahre, deckst damit mehr Marktsituationen ab und kannst dann davon ausgehen, dass der EA auch im 6. Jahr gut funktioniert. Was für dich und deinen Tradingansatz am besten ist, musst du für dich selbst herausfinden.

Ausgestattet mit diesem Wissen solltest du nun in der Lage sein jeden EA im Demomodus kennenzulernen. Bevor du den EA aber auf dem Live-Konto verwendest lege ich dir dringlich ans Herz diesen mit unterschiedlichen Einstellungen noch ein paar Tage, Wochen oder Monate auf einem Demo-Konto mit Live-Daten zu beobachten. Dazu musst du allerdings die Vollversion kaufen (falls das Programm kostenfrei ist, natürlich einfach nur Herunterladen).

Erst die Kombination all dieser Testmethoden hilft dir den EA zu verstehen und Vertrauen in das Programm aufzubauen. Noch besser verstehst du den Expert Advisor nur, wenn du selbst an der Entwicklung beteiligt bist, aber dazu mehr in den folgenden Artikeln…

Viele Grüße HMPRocky

18.03.2021 | 1240 Aufrufe